Hypermedia und Schriftwerke

Die Idee, eine Information mit weiterführenden Erklärungen oder verwandten Informationen in Verbindung zu setzen und diese Verbindung zu dokumentieren, ist weitaus älter als es die digitalen Medien sind oder gar die heutige Ausprägung von Hypermedia. Vielleicht ein wenig überraschend, aber schon viele der ältesten festgehaltenen Schriftwerke der Menschheit weisen diese Merkmale auf.

Die frühesten bekannten schriftlichen Mediendokumente sind in der Regel religiöse Werke. Dazu zählt auch der Talmud. Er ist das große Werk des jüdischen Glaubens und es handelt sich dabei um eine umfangreiche Sammlung von Diskussionen religiöser und alltagsweltlicher Probleme. Die Dokumentation dieser Erörterungen im sogenannten Lehr- und Gerichtshaus des Judentums erfolgte als protokollartige Aufzeichnung jener Diskussionen [MAY63]. Ursprünglich wurden die Inhalte des Talmud mündlich überliefert, bevor etwa im fünften Jahrhundert vor Christus mit der schriftlichen Fixierung begonnen wurde, die etwa 1000 Jahre später ihren Abschluss fand. Den Gelehrten, in dem Falle den Rabbis, Priestern oder Hohepriestern, war der Inhalt des gesamten Werkes bekannt. Zu den festgehaltenen Inhalten zählten des Weiteren auch "Querverweise" zu ähnlichen Diskussionen oder verwandten Themen. Neben dem wortgenauen Inhalt wurde so auch eine Struktur des Aufbaus des Talmud von Generation zu Generation weitergegeben.

Abb. 2
Talmud

Zudem erschien es wichtig, einzelne Teile des Inhalts mit den Erläuterungen, die ansonsten bei Bedarf von den Gelehrten gegeben wurden, besonders hervorzuheben. Der Talmud ist damit wohl eines der ältesten Medien, dass die Idee der Vernetzung seiner Inhalte aufweist.

Dies lässt sich sehr leicht bei der Betrachtung des Seitenaufbaus erkennen. Im Inneren einer Seite befindet sich jeweils der historisch älteste Text. Er steht nicht nur im Mittelpunkt dieser Seite, sondern er steht auch im Zentrum der Bedeutung der Aussage. In Richtung der Seitenränder schließen sich jüngere Texte an und bilden einen Rahmen um das Zentrum. Hierbei handelt es sich um Diskussionen von Gelehrten zum Text im Zentrum der Seite. Auch diese Texte werden in den nächstfolgenden Schritten und Spalten in Richtung des Seitenrandes vertiefend diskutiert. Damit entsteht eine geschlossene Diskussionsstruktur und ähnlich den Knoten eines Hypertextes können diese einzelnen Textstellen isoliert betrachtet werden oder mit anderen Knoten in Verbindung treten. Auf der dem Bundsteg zugewandten Seite des Blattes sind dazu die Kommentare des jüdischen Lehrers Raschi (Rabbi Schlomo ben Jizchak) aufgezeichnet. Diese wiederum werden in der Spalte links des Zentrums durch weitere Zusätze seiner Nachfolger ergänzt. [EIB04] Zwischen und neben diesen Textteilen finden sich Zeichen, die als Querverweise dienen. Sie verweisen auf andere Textstellen innerhalb des Talmud oder auf weitere, ergänzende Textstellen in anderen Schriftwerken. Diese Symbolzeichen zeigen an, auf welche Art von Text verwiesen wird. Sie ähneln somit den heutigen, modernen Links und zeigen damit auch schon ein Verhalten analog zu heutigen Hypermediasystemen, die auf dynamische Inhalte reagieren. [RIE06] Besonders interessant daran ist, dass diese Verweise nicht innerhalb des einen "Informationsknotens Talmud" bleiben, sondern eben auch weitere Informationsknoten in Form weiterer Bücher einbeziehen. Hier tritt zum ersten Mal eine "offene Informationsstruktur" auf, die in späteren Kapiteln noch näher vorgestellt wird.

Nicht nur die Schriften des Judentums weisen solche Strukturen der Vernetzung auf. Auch verschiedene Versionen der Bibel nutzen ähnliche Funktionen. So sind zahlreiche Stellen der Elberfelder Bibel, die zwischen 1855 und 1871 übersetzt wurde, oder auch der sogenannten King-James-Bibel, die erstmalig 1611 veröffentlicht wurde, mit ausführlichen Kommentaren in Form von Fußnoten erläutert oder mit Verweisen auf andere Textstellen versehen.

Abb. 3
King-James-Bibel

Auch Autoren der neueren und neuen Literatur nutzen Strukturen, die den gerade vorgestellten sehr ähnlich sind. Das Aufbrechen der eigentlich starren Seitenstruktur, die aus einer einmal festgelegten und im weiteren Verlauf unveränderten Anzahl aus Spalten besteht, ist dabei nur die Grundlage und wird zu einer flexiblen und dem jeweiligen Kontext angemessenen beziehungsweise angepassten Strukturierung umgeformt. So können beispielsweise unterschiedlich viele Spalten und auch Spalten mit unterschiedlicher Länge erscheinen, sich gegenseitig umfließen, die Aussage des Inhalts verstärken beziehungsweise sich mit anderen Teilen des Werks in Verbindung setzen.

Oftmals wird eine solche Darstellungsweise auch für besondere Werkeditionen genutzt, in denen Notizen und Kommentare des Autors zur Entstehung des Werks eingefügt werden, die nicht nur aus gedruckten Texten, sondern auch aus handschriftlichen Ergänzungen oder Skizzen bestehen können. Eines der bekanntesten aktuellen Werke dieser Art ist wohl "Zettel’s Traum" von Arno Schmidt [SCHm70].

Abb. 4

Abb. 4

Arno Schmidt "Zettel's Traum"
(Auszug Suhrkamp Leseprobe) [SCHm70]

Schon diese wenigen Beispiel zeigen, dass viele Ideen, die digitale Medien und Hypermedia auszeichnen und die diese ihr eigen nennen, ihre theoretischen Wurzeln schon in den "klassischen" analogen Medien haben.