Der MEMEX

Aus technischer Sicht wird oftmals Tim Berners-Lee als der Erfinder des WWW [BER92] und damit auch als Erfinder von Hypermedia bezeichnet. Der erste Teil dieser Annahme kann zumindest noch als weitgehend zutreffend bezeichnet werden, doch insbesondere für den zweiten Teil zeigt schon eine kurze Recherche, dass die Kernidee von Hypermedia, nämlich die Verknüpfung und Vernetzung von Informationen und die Darstellung der Information und ihrer Verknüpfungen, mittlerweile mehr als 70 Jahre alt ist und somit weitaus älter als "unser" Internet. Schon im Jahr 1945 nämlich beschrieb Vannevar Bush in seinem Aufsatz "As we may think" [BUS45] mit seinem MEMEX ein System zur Aufnahme von Informationen, ihrer Verknüpfung und Darstellung. Mit der Bezeichnung MEMEX umschrieb Bush seine Idee eines "Memory Extender", wörtlich übersetzt also einer Speichererweiterung. Einer der Gründe, die Bush zu der Idee eines solchen Systems führte, war die schon damals beginnende Problematik der Verarbeitung der sich explosionsartig vermehrenden Veröffentlichungen und Informationen im wissenschaftlichen und technischen Bereich und somit letztlich das Problem des stetig schneller wachsenden menschlichen Wissens. Bush dachte bei der Ausarbeitung seines Systemvorschlags an beide Benutzergruppen, nämlich sowohl ...

Eine der Kernideen des von Bush angedachten Systems besteht dabei darin, dass das Geschriebene des Autors schon unmittelbar während des Schreibens aufgezeichnet und im Gedächtnis des MEMEX gespeichert wird. Die Aufnahme sollte mit einer Kamera geschehen, die an einer Kopfbedeckung angebracht war, die der Autor während seiner Arbeit trägt. Somit sollte nicht nur der fertige Text in seiner finalen Version, sondern vielmehr auch der Entstehungsprozess dieses Textes dokumentiert werden.

Abb. 5
MEMEX: Kamera Headset

Das Verarbeiten, Finden, und Darstellen der gespeicherten Information auf Seiten des Suchenden sollte vor allem, dem zeitgemäßen technischen Stand folgend, noch durch mechanische Maschinen geschehen.

Leider kann an dieser Stelle nicht gesagt werden, inwieweit Vannevar Bush sich bei dem Entwurf seines MEMEX von der Idee des Italieners Agostino Ramelli inspirieren ließ oder ob er diese und andere "Vorarbeiten" überhaupt kannte. Besagter Ramelli lebte von 1531 bis 1600, war Hauptmann in den Reihen der Medici und dazu Ingenieur mit ausgefallenen Ideen. In seinem Werk "Le diverse et artificiose machine del capitano Agostino Ramelli" beschreibt er, neben einer ganzen Reihe anderer mechanischer Maschinen, schon im 16. Jahrhundert ein sogenanntes Bücherrad.

Abb. 6
Ramellis Bücherrad

Dieses sollte durch seinen flexiblen Aufbau das nichtsequentielle Lesen mehrerer großformatiger Bücher ermöglichen. Ramelli konstruierte dieses Rad dergestalt, dass die Bücher immer in derselben Position liegen bleiben und beim Drehen des Rades nicht herunterfallen sollten. So sollte der "emsige Leser mit Hilfe der rotierenden Lesemaschine in kürzester Zeit zwischen vielen Büchern und Textstellen springen können" [HIS06], letztlich also so, wie wir uns auch heute im Internet über Links zwischen den Inhalten hin- und herbewegen.

Ramelli ist nicht der einzige, der solche mechanischen Lesemaschinen entwarf, leider aber ist nicht bekannt, ob diese jemals tatsächlich aktiv von Informationssuchenden genutzt wurden. Jedoch finden sich funktionstüchtige Rekonstruktionen solcher Maschinen u.a. in Bibliotheken in Gent, Hamburg, Neapel und einigen weiteren Städten.

Interessant bei der Betrachtung der Skizzen von Vannevar Bush und seinem MEMEX ist allerdings aus heutiger Sicht ein anderer Aspekt. Dieser betrifft die generelle, technikunabhängige Gestaltung des Arbeitsplatzes. Wird die Betrachtung reduziert auf die Schreibtischoberfläche, so wird leicht eine Ähnlichkeit mit heutigen Arbeitsplätzen, die vermehrt auf der Nutzung von Tablet- oder Multitouchgeräten aufbauen, deutlich. Diese unterscheiden sich aber sicherlich deutlich von Schreibtischen an Arbeitsplätzen aus damaliger Zeit.

Abb. 7
MEMEX: Arbeitsplatz

Doch wie also schon der kurze Ausflug zu Ramelli und in die Zeiten der Renaissance zeigt, befasste auch Vannevar Bush sich nicht als erster mit der Idee, Informationen geordnet zu archivieren, zu verknüpfen und so für die weitere Verarbeitung nutzbar zu halten. Während MEMEX heutzutage oftmals als die grundlegende theoretische Idee auf dem Weg zum Internet angesehen wird, bleibt der Name Paul Otlet, der von 1868 bis 1944 lebte, zumeist unbekannt.