Hypervideo!

Schon weit vor Berners-Lee zeigten Forscher und Entwickler am Massachusetts Institute of Technology, dass es durchaus möglich und gewinnbringend sein kann, Medien wie zum Beispiel Video interaktiv zu machen.

Einer der Auftraggeber für diese "Aspen Movie Map", entwickelt von einem Team um Andrew Lippman und Nicholas Negroponte, war im Jahr 1978 das US-amerikanische Militär [NAI78][LIP80][SCHu07]. Bei diesem Projekt, das als erstes Hypervideo-Projekt bezeichnet werden kann, wurde dem Benutzer eine virtuelle Fahrt durch die Straßen von Aspen, Colorado, ermöglicht. Das Ziel des Militärs war dabei, dass Einsatzkräfte im Vorfeld eines Einsatzes möglichst realistisch auf reale Gegebenheiten hintrainieren können sollten. Dazu wurde die Fahrt durch die Stadt Aspen, Colorado, von vier Kameras, die auf einem Fahrzeug montiert waren und im Winkel von jeweils 90° nach vorn, rechts, links und hinten blickten, gefilmt. Die Speicherung der für damalige Verhältnisse noch immensen Datenmengen erfolgte auf mehreren Laserdiscs. Das vorhandene Bildmaterial erlaubte es dem Benutzer, jederzeit in jede beliebige Blickrichtung zu schauen und an jeder Kreuzung einen beliebigen Weg eingeschlagen zu können [HOE08].

Abb. 10
Aspen Movie Map

Die Aspen Movie Map ist bei genauerer Betrachtung jedoch ein ebensolcher Sonderfall von Hypermedia, wie es die meisten Inhalte des WWW ganz allgemein auch sind. Wenngleich auch Video anstelle von Text, so nutzt auch die Aspen Movie Map lediglich eine einzige Art von Medium. Die Besonderheit der Charakteristik dieses Sonderfalles wird in späteren Kapiteln noch näher betrachtet.

Eher noch als die Aspen Movie Map kann das Ergebnis des Projektes "Augment" als das erste System, dass die medienübergreifende Grundidee von Hypermedia tatsächlich realisiert, bezeichnet werden. Im Jahr 1968 leitete Doug Engelbart am Stanford Research Institute dieses Projekt zur Textverarbeitung und Bürokommunikation, dessen Grundlagen er schon einige Jahre früher beschrieb [ENG62]. In einem Teil dieses Projektes, dem sogenannten "NLS On Line System", speicherten alle Mitarbeiter und Teilnehmer alle ihre Aufzeichnungen wie Berichte, Briefe und weitere Papiere zum Projekt in einem gemeinsamen "Journal". Darin waren auch Querverweise möglich, die den heutigen Verlinkungen entsprachen. Nach Ende des Projekts enthielt dieses Journal mehr als 100.000 Einträge.

Die detaillierte Entwicklung des Internet beziehungsweise des World Wide Web soll an dieser Stelle übersprungen werden, da diese mittlerweile als allgemein bekannt vorausgesetzt werden kann. Der aktuelle technische Stand kann an den derzeit verfügbaren Internetbrowsern und den damit erreichbaren Inhalten des Internet und des WWW beziehungsweise an deren Darstellung eindeutig und selbsterklärend abgelesen werden. Bei dieser Betrachtung sollte allerdings einer der eingangs erwähnten Punkte ebenso eindeutig wie selbsterklärend auffallen, nämlich die überwiegende Nutzung von Text als hypermedialem Inhalt und die darauf ausgelegten Formen der Interaktion. Auch wenn der Anteil von Video im Datenverkehr rasant steigt und weiter steigen wird, glaubt man zum Beispiel Statistiken und Prognosen aus Quellen wie Cisco [SCHo09] oder Statista [BRA16], so verharren doch zunächst zwei mögliche Entwicklungen:

Abb. 11
Adivi

ADIVI, entwickelt am Fraunhofer Institut für Graphische Datenverarbeitung in Darmstadt, ist eine Hypervideo- und Rich-Media-Software, mit der Videomaterial durch die Verknüpfung mit weiteren Informationen interaktiv gestaltet werden kann. So können Videos durch Bilder, Weblinks, andere Videos, Dokumente oder sonstige Dateien angereichert werden. Dadurch wiederum kann es gelingen, die Linearität klassischer Videos aufzubrechen. Dem Zuschauer als Benutzer eröffnet sich so die Möglichkeit, videobasierte Inhalte zielgerichtet aktiv und selektiv zu erkunden und damit selbst den Verlauf der Präsentation zu bestimmen. Dazu werden, in Analogie zu den bekannten Links in Texten, sogenannte "sensitive Regionen" eingeführt, die als aktivierbare Verknüpfungen zu den zusätzlichen Informationen dienen [ADI11].

Adressiert ADIVI eher die Entwicklung "ernsthafter" Anwendungen und damit einer kleineren, spezielleren Nutzergruppe mit relativ hoher Homogenität, so richten sich die Entwicklungen von YouTube eher an die breite und inhomogene Masse der Internetnutzer. Mit den sogenannten Videoanmerkungen erlaubt YouTube seinen Benutzern, Videos "interaktive Kommentare" hinzu zu fügen. Der Nutzen soll darin bestehen, Hintergrundinformationen zum Video geben oder Geschichten mit mehreren Verläufen erstellen zu können. Dem Zuschauer wird dazu die Möglichkeit geboten, die nächste Szene des Videos durch Anklicken auszuwählen oder schlicht ähnliche YouTube-Videos, Channels oder Suchergebnisse durch den Klick auf den Link zu erreichen. Letztlich kann der Benutzer das Video oder einzelne Szenen darin selbst kommentieren. Der Benutzer "legt den Inhalt, die Platzierung und die Zeit für die Einblendung der Anmerkungen" selbst fest [YOU12].

Abb. 12
YouTube

Die genannten Beispiele sind nicht die einzigen Anwendungen, die die Idee von "Hypermedia" mit "Multimedia"-Inhalten und darauf angepasster Interaktion realisieren. Die Zahl ähnlicher Anwendungen steigt und wird zukünftig dazu führen, dass sich der Inhalt des Internet und dessen Gestaltung in Zukunft wesentlich von dem derzeitigen unterscheiden kann - und wird!
Wie zu Beginn der Entwicklung und der Verbreitung des Internet beziehungsweise des WWW, so stehen auch jetzt Gestalter und Entwickler erneut vor der Aufgabe, neue Wege und Grundlagen für die Präsentation und die Gestaltung von Interaktion zu finden, die neben ästhetischen Ansprüchen auch und besonders die Usability und Benutzbarkeit berücksichtigen.

Die eingangs aufgeworfenen Fragen, von denen dieser Teil von "Beyond ..." zumindest einen kleinen Teil ansatzweise beantworten möchte, schließen nahtlos an die gerade aufgezeigte Entwicklung an beziehungsweise sie sind die theoretische Grundlage für diese Entwicklung. Sie liegen in einer Reihe von Schnittmengen, die unterschiedliche Perspektiven beschreiben:

Diese Schnittmengenbildung ist es wohl auch, die es bisher verhindert hat, dass sich vollständige Umsetzungen der ursprünglichen, ganzheitlichen Hypermedia-Idee finden lassen. Zum einen steht einer solchen Umsetzung die sicherlich nicht einheitliche Entwicklung technischer Lösungsmöglichkeiten entgegen. Hier sei als Beispiel nur die Differenz zwischen den älteren standardisierten HTML-Versionen und dem aktuellen Standard HTML5, Halbstandards wie DHTML und proprietären "Proforma-Standards" wie Flash, Java oder anderen erwähnt. Ähnliche Schwierigkeiten zeichnen sich auch im Wohnzimmer ab, wenn die derzeit unüberschaubare Zahl von IPTV-Angeboten, interaktivem Fernsehen und sogenannten Smart-TVs betrachtet wird. Letztlich kann hier derzeit nur versucht werden, einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, der dann als begrifflicher Standard bezeichnet werden könnte. Bei allen genannten Formen handelt es sich letztlich auch "nur" um eine Verbindung aus Internet und klassischem Fernsehen.

Abb. 13
Schnittmengen

In verschiedenen Umsetzungen gibt es verschiedene Formen neuer Interaktion mit unterschiedlichen Rückkopplungskanälen vom Zuschauer zum Programmanbieter. Inhaltlich allerdings werden in den meisten Fällen jedoch die Möglichkeiten, die sich durch die Annäherung der Medien in verschiedenen Formen und aus verschiedenen Quellen ergeben und bieten würden, meist nicht einmal ansatzweise ausgeschöpft. Oft bleiben die Umsetzungen leider an einem Punkt stehen, den der Konsument schon seit langer Zeit kennt:

Dazu wird im folgenden Schritt ein intensiver und detaillierter Blick auf die übergeordneten Begriffe geworfen. Dies ist aus dem Grunde unerlässlich, da viele der in dem hier aufgespannten Kontext benutzten Begriffe auch allgemeinsprachlich, also im Alltag eines jeden Einzelnen, benutzt werden. Dabei schleichen sich dann leider häufig Ungenauigkeiten in das Verständnis der einzelnen Begriffe ein, die das Gesamtverständnis erschweren.