Narratives Hypermedia (Teil 1 von 2)


Teil 2

Die bis hierher beschriebenen Formen von intelligentem Hypermedia, egal ob adaptiv oder adaptierbar, greifen vor allem in die Auswahl der angebotenen Inhalte und deren Darstellung sowie in die Anpassung der Navigationshilfen ein. Eine weitere Möglichkeit zur Anpassung einer Präsentation an den Benutzer ist das Aufbrechen der narrativen Strukturen bei der Vermittlung der Inhalte.

Schon früh in der Entwicklung und Anwendung von Hypermedia versuchten auch Schriftsteller, die neuen Möglichkeiten, die sich durch die Vernetzung von Inhalten bieten, auf künstlerische Weise zu nutzen, wie es auch Andrzejewski beschreibt [AND07]. Suter beschreibt dies ebenfalls sehr anschaulich, wenn er sagt, dass sich "elektronische Hypertexte (...) oft dadurch aus[zeichnen], dass sie keinen eindeutigen Narrationspfad vorgeben, sondern ganze Netzwerke von Möglichkeiten anbieten. Raum und Zeit nehmen dabei wie in traditionellen Texten eine zentrale, 'erzählungskonstituierende' Rolle ein. Raum- und Zeitdimensionen werden in Hyperfiktionen über das Prinzip des Weges verknüpft." [SUT00] Die von Suter beschriebene Hypertextliteratur beruht auf dem aktiven Eingreifen des Benutzers, also hier des Lesers, in das hyperliterarische Stück. Er entscheidet, welchem Verweis innerhalb der Erzählung er folgen will.

Die Berücksichtigung der Vernetzung und der sich daraus bildenden narrativen Netzwerke ist ein erster Schritt zum Aufbrechen der Linearität in der Narration. Sowohl Romane als auch Filme, Theaterstücke oder Hörspiele folgen in der Regel einem linearen Ablauf. In der Mehrheit orientiert sich dieser Ablauf am realen zeitlichen Ablauf innerhalb der Handlung. In einigen wenigen Ausnahmen orientiert sich der Ablauf dagegen auch an anderen Merkmalen wie zum Beispiel einer handlungsimmanenten Logik. Ein recht eindrückliches Beispiel dafür stellt Umberto Ecos "Das Foucaultsche Pendel" dar, bei dem zunächst Handlungsstränge in verschiedenen Zeitaltern parallel erzählt werden, bis sie an einem logisch sinnvollen Punkt in der Narration zusammengeführt werden. [ECO92]

Letztendlich aber bleibt die Rezeption der Narration linear. Der Leser, oder allgemeiner: das Publikum, verzweigt zwar in der Handlung und bricht die Linearität der Handlung auf. Allerdings setzt sich die vom Publikum empfangene Narration auch weiterhin aus einer linearen Abfolge von Teilstücken zusammen [HOF10]. Auch wenn möglicherweise Dinge parallel wahrgenommen werden können, wie zum Beispiel Gehörtes und Gesehenes, so ist dennoch die Verarbeitungsmöglichkeit des Publikums oftmals nicht in der Lage, beides parallel, in diesem Sinne also nichtlinear, zu verarbeiten.

Abb. 42
Nichtlineare Handlungswelten

Wenn auch die Rezeption der Narration linear bleibt, und wenn auch die Handlung in der Regel einer linearen inhaltlichen Logik folgt, so besteht dennoch die Möglichkeit, die Darstellung der Handlung in gewisser Weise zu entlinearisieren. Dies kann am Beispiel eines Krimis sehr gut erklärt werden:

Diese sechs Teilstücke der Gesamthandlung lassen sich auf verschiedene Weise zusammensetzen. Werden für die verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten nun entsprechend geeignete Erzähltheorien berücksichtigt, so können sich in allen Kombinationsmöglichkeiten durchaus dramaturgisch sinnvolle und für das Publikum spannende Narrationen ergeben. Das dies tatsächlich funktioniert, zeigt der Vergleich einer normalen Folge einer Fernsehreihe wie "Tatort" oder "Polizeiruf 110" mit anderen Kriminalstücken. Während die ersteren in der Regel dem obigen Ablauf (1)-(2)-(3)-(4)-(5)-(6) folgen, nutzen Autoren für andere Stücke auch die Möglichkeit, Publikum und virtuelle Ermittler erst einmal im Dunkel oder auf unterschiedlichen Wissensniveaus stehen zu lassen. So können sich auch Handlungsaufbauten wie (4)-(6)-(5)-(1) oder andere als erfolgreich, dramaturgisch sinnvoll und für das Publikum spannend erweisen.
Ein gutes Beispiel, neben unzähligen anderen, bildet Stanley Kubricks Film Lolita aus dem Jahre 1962, der ausgesprochen gekonnt mit der oben aufgeführten Abfolge spielt und diese sogar noch einmal auf besondere Weise zusammensetzt, in dem Anfang und Ende des Films in dem obengenannten Punkt (5) zusammenlaufen. [KUB62]

Intelligente Hypermediaanwendungen können dieses Aufbrechen der Gesamthandlung in Teilstücke nutzen, um dem Publikum den individuell besten, also spannendsten, dramaturgischen Handlungsverlauf zu präsentieren.