Teil 1 |
Beispiele wie das oben beschriebene Krimibeispiel basieren dabei auf der langen und erfolgreichen Geschichte der Literatur- und auch der Theatertheorie. Insbesondere die Handlungstheorien von Genette sind hier ausgesprochen hilfreich [GEN66][GEN69][GEN72][GEN83][GEN94], denn er führte mit der Beschreibung von Analepsen und Prolepsen als sogenannte "Ellipsen einer Handlung" theoretische Hilfsmittel ein, die die Basis für eine erfolgreiche Realisierung von narrativem Hypermedia sein können.
Ellipsen als Hilfsmittel zur Strukturierung von narrativem Hypermedia
Eine andere Art von Erzählung kann für die hypermediale Darstellung ebenfalls interessant sein. Dabei handelt es sich um den sogenannten Perspektivenfilm, bei dem die Handlung ebenfalls in Teilhandlungen aufgebrochen wird und jede der Teilhandlungen aus der Perspektive eines in der Handlung auftretenden Charakters erzählt wird.
Das herausragende und wahrscheinlich bekannteste Beispiel für diese Art der Erzählung ist sicherlich der Film "Rashomon" von Akira Kurosawa aus dem Jahr 1950 [KUR50]. Auch dabei handelt es sich um eine Kriminalhandlung, bei der das Geschehene aus den Perspektiven der verschiedenen involvierten Personen in den Rollen Opfer, Täter und Zeuge erzählt wird. Im Kinofilm werden diese Perspektiven nacheinander gezeigt, da es hier an der möglichen Interaktion fehlt, damit das Publikum in die Darstellung oder die Wahl der Perspektive eingreifen könnte. Aktuelle Techniken wie DVD/ BluRay [JES04] oder eben auch Hypermedia bieten dem Publikum nun die Möglichkeit, die Perspektive, aus der die Handlung erzählt wird, während der Präsentation auszuwählen und zu wechseln.
Perspektivenfilm auf DVD |
Auch hier kann die intelligente, narrative Hypermedia-Anwendung sich dem Benutzer anpassen und, in der einfachsten Umsetzungsvariante, nur die Verweise zu Perspektiven verändern, die der Benutzer schon gesehen hat oder aber, in einer komplexeren Realisierungsform, dem Benutzer nur die Perspektiven anbieten, die dramaturgisch sinnvoll sind. Insbesondere die letztere Realisierung setzt die Existenz eines guten Benutzermodells und darüber hinaus eines guten Dramaturgiemodells voraus.
Perspektivenfilm als Hypermedia
Ständige Interaktionsmöglichkeit zum Perspektivwechsel
Der Hinweis auf interaktive Kinoerlebnisse soll und darf an dieser Stelle nicht fehlen. Dieses Thema aber soll im Rahmen dieses Buches nicht weiter vertieft werden, da bei diesen Anwendungen in der Regel das soziale Gruppenerlebnis im Zentrum [WIN10] steht. Für "normale" Hypermedia-Anwendungen ist dieser Aspekt allerdings wohl eher irrelevant. Zudem erfordert diese Form auch ein gänzlich anderes Herangehen an die Gestaltung der Interaktion als es für Hypermedia-Anwendungen, die in der Regel eben für einzelne Benutzer konzipiert sind und um die es in diesem Buch vornehmlich gehen soll, sinnvoll ist. Viele und ausgesprochen spannende erfolgreiche Arbeiten auf diesem Gebiet hat Glorianna Davenport mit ihrer interactive cinema group am Massachusetts Institute of Technology (MIT) aufzuweisen.
Interaktives Kino |
Einen technisch aktuelleren und auch einen etwas anderen Ansatz als die des oben genannten MIT zeigt das Projekt "Last Call" der Berliner Filiale der Agentur Jung von Matt [THI11]. Auch dieses ist eine Umsetzung für interaktives Kino und hat damit ebenfalls den sozialen Gruppenaspekt im Fokus. Allerdings wird durch die crossmediale, beziehungsweise genauer gesagt: die crossmodale, Interaktion ein weitaus höherer Grad der Individualisierung erreicht. Eine einzelne Person aus der Gruppe des Publikums wird ausgewählt, über den Verlauf der Handlung zu entscheiden. Dies geschieht über das Smartphone oder Handy, also ein ganz alltägliches Gerät. Der ausgewählte Besucher gibt vor dem Besuch der Veranstaltung seine Telefonnummer an und damit die Zustimmung, während der Veranstaltung angerufen zu werden. Während der Vorführung wird aus der Liste der Telefonnummern an bestimmten Stellen des Films ein Gast ausgewählt und dieser von der Hauptperson im Film angerufen und gezielt nach dessen Hilfe gefragt. Diese Hilfe beeinflusst dann den weiteren Verlauf des Geschehens auf der Leinwand. Somit erreicht dieser Ansatz ein Aufbrechen des normalerweise vorgegebenen, feststehenden Handlungsverlaufs. Durch die Crossmedialität und die Beeinflussbarkeit der Handlung kann so eine stärkere Immersion des Publikums in die Handlung erreicht werden.
Interaktives Kino mit crossmedialer Interaktion (Last Call) |